Wie man durch eigene Gedanken Halt und Boden verliert (und eine einfache Frage, die dir wieder Halt gibt)

Nicht selten stehen wir im Alltag auf einer schwankenden Leiter anstatt auf sicherem Boden – ohne es zu merken. 

Wenn wir realisieren, dass wir ins Schwanken gekommen sind, fragen wir uns:

„Was ist los?“

auf der leiter stehen

Manchmal stehen wir auf einer schwankenden Leiter. Wir bemerken das Schwanken, aber nicht die Leiter.

Wir merken das Schwanken, sehen aber nicht, dass wir auf einer Leiter stehen. Wir haben den Bezug zu den “Fakten”, den Boden unter den Füßen verloren und unsere Gedanken und Schlussfolgerungen zeichnen Horrorszenarien. Ärger, Scham, Schuld, Angst sind dann die Folge.

Deine Schlussfolgerungen sind die Sprossen der Leiter, die du hoch kletterst und dadurch immer weniger “Fakten” siehst bzw. den Boden unter den Füßen verlierst.

Leiter der Schlussfolgerungen

Mit Schlussfolgerungen meine ich, welche (oft unbewusste) Bedeutung du einer wahrgenommenen Situation gibst.

Beispielsweise könnte ich wahrnehmen, dass einer meiner Artikel keine Kommentare hat. Daraus kann ich jetzt Schlüsse ziehen:

“Mensch, heute ist Sonntag, da sitzt niemand vorm PC. Klar kommentiert niemand.”

Oder

„Niemand kommentiert, dh. mein Artikel ist einfach schlecht.“

Meistens gehen unsere Schlussfolgerungen nicht in eine angenehme Richtung:

Die zweite Schlussfolgerung im Beispiel oben löst in mir Angst aus. Sie lädt mich ein, meine Gedanken auch in diese Richtung weiter zu spinnen. (Es könnte ja genau so gut sein, dass niemand kommentiert, weil der Artikel so klar und präzise geschrieben war. Aber das wirkt, als würde ich mir was vormachen.)

Am ehesten ist mein nächster Gedanke:

„Du bist einfach ein mieser Blogger.“

Ouch.

Meistens folgen weitere Gedanken:

„Oh Gott, du bekommst gar nichts auf die Reihe.“

(Genickmuskeln erschlaffen, Kopf und Schultern hängen nach unten, Welt erscheint in Grautönen.)

„Du bist einfach ein wertloser Mensch.“

(Spätestens jetzt große Schamgefühle.)

Ohne es zu wissen, habe ich Schritt für Schritt eine Leiter erklommen. Jede Schlussfolgerung ist eine Sprosse. Und mit jeder Sprosse bin ich etwas weiter weg vom Boden – also von den eigentlich vorhandenen Fakten.

Es ist sehr verständlich, dass ich so starke Gefühle habe. Ich brauche in dieser Situation Halt, Sicherheit und Vertrauen, dass ich wertvoll bin.

Willst du die Leiter wieder runterklettern, brauchst du zunächst einige Annahmen, die dich dabei unterstützen:

  • Du bist nicht deine Gedanken

Sondern es denkt in dir. Das kannst Du in einem Selbstexperiment testen.

Wenn du dich bequem hinsetzt und für einige Zeit deinen Atem beobachtest, wirst du feststellen, dass deine Gedanken kommen und gehen. Du konzentrierst dich wieder auf deinen Atem und plötzlich kommt ein neuer Gedanke und noch einer. Die machen, wie sie wollen und du kannst sie dabei beobachten – ohne dich mit ihnen zu identifizieren.

  • Deine Schlussfolgerungen und Gedanken haben Auswirkungen auf dich

Schlussfolgerungen sind oft semi-bewusst. Das heißt, sie werden mehr oder weniger automatisch gemacht. Sie entwickeln jedoch sofort Wirkung auf deine Empfindungen und Gefühle. Wie bei mir im obigen Beispiel Angst und Scham.

(Auch diese Auswirkungen kannst du beobachten, ohne dich mit den Gefühlen vollkommen zu identifizieren.)

Wie kannst du wieder Boden unter den Füßen gewinnen?

Du kannst dich von der Abwärtsspirale befreien, in dem du dir diese Frage stellst:

“Was führt mich zu meiner Schlussfolgerung bzw. meinem Gedanken?”

Vor kurzem fühlte ich mich am Nachmittag im Flow, sehr kraftvoll und sicher. Am selben Tag fuhr ich mit dem Fahrrad nach hause. Als ich zuhause angekommen war, fühlte ich mich energielos und hatte Gedanken wie “ich bin ein schlechter Mensch”.

Was war während der Fahrt passiert?

Ich fragte mich:

“Was führt mich zu der Annahme, ich sei ein schlechter Mensch?”

Dann wurde mir klar, dass ich zuvor dachte, ich sei ein schlechter Fahrradfahrer. Ich versuchte die vorangegangen Gedanken zu rekonstruieren.

Während ich mit dem Fahrrad die Straße entlang fuhr, hörte ich ein Brüllen. Einige Meter später kam mein erster Gedanke:

“Bedeutete dieses Brüllen: ‘Kennst du die Verkehrsordnung nicht’?”

Ich fuhr weiter. Ein paar Meter später besuchte mich ein neuer Gedanke.

“Hat der etwa mich gemeint?”

Meine Stimmung verdunkelte sich.

“Ich bin wohl ein mieser Fahrradfahrer.”

Den Rest kennst du ja schon.

Der Ausgangspunkt meiner Gefühle war ein Brüllen. Ich hatte keine Ahnung, was wirklich gebrüllt wurde. Erst einige Sekunden später kam eine Vermutung. Und dann kam die nächste Vermutung darüber etc.

Der Ausgangspunkt und die neutrale Beobachtung war: Ich habe links von mir einen vagen Zuruf wahrgenommen. An diesem “Fakt” anzukommen, änderte alles. Ich konnte die Gefühle annehmen, die Willkür meiner Gedanken verschwand und ich hatte endlich Halt. (Boden unter meinen Füßen.) 😉
 

Warum wirkt diese Frage?

Wenn du dir diese Frage stellst, bist du nicht mehr deine Gedanken, sondern beobachtest deine Gedanken. Das macht einen Unterschied in deinem Erleben. Du hast Abstand und mehr Gestaltungskraft.

In dieser Position kannst du deine Aufmerksamkeit neu ausrichten und beispielsweise auf deine anerkennenswerten Bedürfnisse legen. Das wird sich sofort auf dein Erleben auswirken.

Fazit

Oft verlieren wir uns in einer Kette von Schlussfolgerungen und Gedanken und finden nicht mehr raus. Wir sind dann wie auf einer schwankenden Leiter ohne festem Boden unter den Füßen.

Die Gedanken mithilfe der Frage: “Was führt mich zu der Schlussfolgerung?“ rückzuverfolgen, kann dir helfen, Abstand zu gewinnen und deinen Fokus in eine hilfreichere Richtung zu lenken (z.B. Bedürfnisse) bzw. die Leiter wieder runterzuklettern.

Was meinst du dazu? Kannst du diese Methode anwenden? Kommentiere. Ich freue mich auf deine Meinung.

Alles Liebe,
Raphael

 

Quellen und mehr zum Thema:

Klaus Karstädt: https://www.youtube.com/watch?v=0ZUuup8WOHQ
Affekt Priming Forschung: Kurzer Wikipedia Artikel (Schlussfolgerungen haben Wirkung auf deine Gefühle)
Martin Seligman auf Wikipedia: (Zusammenhang von bestimmten Schlussfolgerungen zu Depression)

Fotos:
Featurebild Splitshire
© Depositphotos.com/photomak

  1. Daniel Antworten

    Super!!

    Ich hab mich selbst erkannt. Und spätestens bei “Hat der etwa mich gemeint?” hatte ich einen Lachanfall. Wenn ich es so klar, verständlich und einfach geschildert bekomme frag ich mich „Wie kann einem das passieren?“ Und gleichzeitig fallen mir ganz viele Situationen ein wo mir das passiert ist 😀

    • Raphael Antworten

      Hallo Daniel,

      danke für deinen Kommentar!
      Das freut mich, dass ich nicht der einzige bin, der diese Erfahrung macht 😀

  2. Martin Antworten

    Mache das eigentlich bereits eine gewisse Zeit lang, was mir super hilft, da ich selbst festgestellt habe, dass die Sprossen aus denen ich meine Leiter erklommen hatte komplett irrational waren und jegliche Fakten vermisste sondern lediglich meine Ängste als Grundlage hatte.
    Aber finds gut, dass hier so zu lesen damit wirds mir wahrscheinlich noch bewusster.

    • Raphael Antworten

      Hey Martin,

      danke für dein Kommentar. Ich denk mir oft bei Themen über die ich schreibe: „Eigentlich ist es ja Hausverstand bzw. tun wir das auch mehr oder weniger bewusst.“ Wenn es hilft, solche Strategien bewusster parat zu haben, freu ich mich. 🙂

  3. Sabrina Antworten

    Hi Raphael,

    der Artikel ist wunderbar. Gerade die Stelle „Du bist nicht deine Gedanken“ hat mich an Byron Katie und Eckhart Tolle erinnert. Von diesen beiden und ihren Vorträgen konnte ich schon so einiges lernen und ich finde diesen Bereich des Lebens und des Seins wahnsinnig spannend. Außerdem ist es schön zu sehen, wie befreiend es ist, seine Gedankengänge zu verfolgen um zu sehen, woher dieser oder jener Gedanke kommt. Ich beschäftige mich auf meinem Blog unter anderem auch mit solchen Fragen und bin immer wieder erstaunt, wie unbeschwert das eigene Leben ist, wenn man weiß, welche Fragen man sich stellen muss.

    Alles Liebe, Sabrina

    • Raphael Antworten

      Hallo Sabrina,

      das freut mich zu lesen. 🙂 Was du schreibst kann ich voll unterstreichen! Werde mal rein lesen in deine Artikel, viel Erfolg beim Schreiben.

      Alles Liebe,
      Raphael

  4. matthias Antworten

    Während dem Lesen des Artikels habe ich auch meine Gedanken beobachtet. Erstens gebe ich dir völlig recht, dass wir solche Leitern hochgehen. Das Runterkommen kann aber sehr erschwert werden. Ich zum Beispiel missachte häuffig Verkehrsregeln auf meinem Fahrrad. Natürlich nur so dass ich (meiner Meinung nach) niemanden gefährde oder bedränge. Folglich würde ich so einen Schrei noch viel stärker so deuten wie du und hätte grosse Mühe wieder von der Leiter runter zu kommen. Oder ich würde den Schreienden in Gedanken als nicht fahrradfahrenden Vollpfosten beschimpfen.
    Ich komme immer wieder zum Schluss, dass wir in unserer Teenager Zeit bereits gute Lösungen für solche Probleme hatten:
    Fahrradfahren mit Kopfhöhrern zum Beispiel. Aber irgendwann kam dann die Vernunft und sagte zu gefährlich.
    Als Teenager war ich auch viel eher in der Lage zu sagen/denken: mir doch egal was der sagt oder denkt, ich mach mein Ding. Aber auch diese Gabe vierliert man mit zunehmender Reife/Vernunft. Wer weiss vielleicht kommt sie wieder?

    Danke für deine interessanten Artikel.
    peace
    mat

    • Raphael Antworten

      Lieber Matthias,

      vielen Dank für deinen Kommentar! 🙂
      Ja das Raufklettern ist leider einfacher als das wieder Runterklettern. Sobald wir einige Stufen nach oben genommen haben, hat das Einfluss auf unsere Gefühle: Wir fühlen Scham, Angst oder Ärger. Selbst wenn du dir jetzt bewusst machst, was der Fakt war (jemand hat geschrien ohne zu wissen, was genau) und somit wieder am Boden der Tatsachen stehst, stehst du jetzt mit diesen ausgelösten Gefühlen am Boden der Tatsachen. Wie gehst du jetzt mit diesen Gefühlen um?

      Hm verlieren tun wir die Gabe, die wir als Teenager hatte nicht – einmal im Gehirn gespeichert, ist es nicht löschbar. Wie Fahrradfahren. Die Frage ist, wie können wir diese Gabe wieder entdecken? 🙂

      Liebe Grüße,
      Raphael

  5. Neuhier Antworten

    Lieber Raphael, das haben Sie sehr schön geschrieben . Ich bin schon ein paar Jahre älter. Habe nach dem Lesen Ihres Artikels einige ‚flashbacks‘ aus dem Berufsleben gehabt. Ich hatte einmal einen extrem aggressiven und cholerischen Chef. Der hat mir mein Leben so zur Hölle gemacht. Mit Schreien und Drohungen. Die hatten mir mir nichts zu tun. Jedoch haben sie mich extremst eingeschüchtert. Denn es gab in der Firma niemanden, der nur geholfen hat. Alle hatten vor diesem Typen Angst und waren deshalb ruhig. Nur ein Kollege hatte den ‚ Mut‘ mir zu sagen: weisst Du, wer weiss ob der irgendwannmal auch mein Chef wird. Deswegen halte ich mich da raus….

    Diese Situation hat mich für mein ganzen Leben geprägt. Leider in eine tiefe Abwärtsspirale. Ich hatte niemanden an der Hand, der mich wieder ins Licht geführt hat.

    Bei Ihnen sehe ich, Sie sind auf einem guten Weg für Ihr Leben. Bleiben Sie so stark, wie sie es sind!!!

    Alles Liebe

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