Leben mit Hochsensibilität: Eine wichtige Erkenntnis

Wenn du das Internet nach dem Begriff "leben mit Hochsensibilität" durchkämmst, findest du viele Foren und Kommentare, in denen Menschen erleichtert feststellen, dass sie hochsensibel sind.

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Ein Kommentar zu einem Beitrag über Hochsensibilität.

Ähnlich ging es auch mir vor drei Jahren, als ich das erste Mal mit diesem Konzept in Berührung kam. Ich las einen Artikel in der Zeitung und dachte mir, “ja, genau so geht es mir!”.

Ich fühlte:

  • Überforderung an Plätzen wo viel los ist (wie z.B. in Kaufhäusern oder überfüllte Strassen)
  • Unwohlsein in öffentlichen Verkehrsmittel etc.

Es war eine Erleichterung zu erfahren, dass es nicht nur mir so ging, sondern sehr vielen anderen auch.

Hochsensibilität beschreibt die Eigenschaft von Menschen, besonders stark auf äußere Reize zu reagieren. Hochsensibilität ist weder eine Krankheit noch in Stein gemeisselt. So wie ich Hochsensibilität verstehe, ist es keine Erklärung dafür, wie wir uns fühlen, sondern eine Beschreibung: eine wichtige Beschreibung, denn sie zeigt uns, dass wir nicht alleine sind mit unserem Erleben!

Was passiert genau, wenn Menschen wie ich erfahren, dass sie hochsensibel sind? Was ändert sich in uns, dass wir plötzlich erleichtert sind?

Äußerlich hat sich nichts geändert. Nachdem Menschen erfahren haben, dass sie hochsensibel sind, nehmen sie Reize genau so intensiv wahr wie zuvor.

Was sich ändert, ist die Bewertung zu sich selbst.

Wenn Menschen jetzt intensiv wahrnehmen oder stark auf einen Reiz reagieren, dann bewerten sie das nicht als schlecht oder negativ, sondern als normal. Das erlaubt ihnen mitfühlender und verständnisvoller mit sich umzugehen.

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Wenn wir erfahren, dass es Hochsensibilität gibt - dass wir nicht alleine sind mit unserer intensiven Wahrnehmung, ändern sich unsere Bewertungen.

Hochsensibilität und der Effekt, den dieses Konzept auf uns hat, hält mindestens eine wichtige Lektion für uns bereit:

Ein Problem ist nie ein Problem an sich. Zunächst ist ein Problem lediglich ein neutrales Phänomen. Ob ein Phänomen zu einem Problem wird, wird von der Beziehung zu diesem Phänomen bestimmt.

Lass uns diese These genauer untersuchen:

Alles, was um dich und in dir geschieht ist zunächst nur ein Phänomen. Das Geräusch der Waschmaschine, die Musik, die Berührung auf deiner rechten Schulter oder das Gefühl der Angst: Das sind zunächst alles neutrale Phänomene. Zu einem Problem wird eines dieser Phänomene erst durch eine negative Beziehung zu diesem Phänomen.

Nehmen wir zum Beispiel Angst. Für viele ist Angst ein Problem: Die Angst vor der Präsentation oder dem Fernsehauftritt. Die Angst, die mich hindert, das zu machen, was ich wirklich machen will etc. Dann gibt es da auch meine Bekannten: Sie empfinden regelmäßig große Angst. Die Angst ist ihnen aber so viel wert, dass sie sogar dafür zahlen.

Sie gehen nämlich Bungeejumping.

In beiden Fällen haben wir dasselbe Phänomen: Angst. Was sich in den Beispielen unterscheidet, ist die Beziehung zur Angst.

O.k. aber was ist mit Lärm oder visueller Reizüberflutung? Die sind einfach nervig - egal, wie ich mit diesen Phänomenen in Beziehung trete!

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O.k. ein Presslufthammer ist aber wirklich störend - egal wie die Beziehung zu diesem Lärm äh Geräusch ist. Wirklich? Durch verschiedene Aufmerksamkeitstechniken können wir lernen, dass uns zumindest momentan auch dieser Lärm gleichgültig wird.¹

Gunther Schmidt erzählte von einem Seminar, in dem in der Nachbarwohnung mit einem Presslufthammer eine Wand weggestemmt wurde. Das Thema dieses Seminars war Hypnose gewesen und er meinte scherzhaft, dass er die Hypnose schreiend anleiten musste, weil die Presslufthammer so laut waren. Doch es gelang ihm, den Lärm zu nutzen, indem er die Teilnehmer einlud, sich vorzustellen, wie jedes Vibrieren und jeder Schlag des Presslufthammers sie mehr und mehr entspannen und massieren und sie tiefer und tiefer in eine Trance führen würde. Er bot in der Hypnose eine alternative Beziehung zu den auditiven Schallwellen an, die der Presslufthammer produzierte.

Die Beziehung zu einem Phänomen wird unter anderem durch die Bewertung, Bedeutung, Schlussfolgerung oder Beschreibung bestimmt.

Mich überfordert oder unwohl zu fühlen, ist kein Problem - es ist ein Phänomen. Für viele Menschen, die sich mit dem Thema Hochsensibilität nicht auseinandergesetzt haben, bedeuten diese Phänomen:

“Warum empfinde ich manches so stark? Warum bin ich immer so überfordert? Warum fühle ich mich im Supermarkt so müde? Mit mir stimmt etwas nicht.“

Durch diese Bewertungen und Schlussfolgerungen bauen wir eine negative Beziehung zu den Phänomenen Unwohlsein und Überforderung auf: Sie werden zum Problem.

Wenn wir dann auf den Begriff Hochsensibilität stoßen, ändert es alles und nichts: Das Phänomen bleibt - wir fühlen uns manchmal unwohl oder überfordert. Doch die Beziehung ändert sich: Sich überfordert zu fühlen ist o.k. Ich bin in Ordnung.

Hochsensibilität ist ein Konzept, das uns hilft, unsere Bewertungen zu ändern. Es ist keine Ursache oder Erklärung für unser Erleben. Aber es zeigt uns: “Hey, du bist nicht alleine mit deinem Erleben!”

Mit Vorsicht würde ich alle Aussagen genießen, die behaupten Hochsensibilität sei die Ursache, warum du empfindest, wie du empfindest. Das lässt sich nicht eindeutig belegen: Es gibt viele genetische und psychosoziale Faktoren, die Einfluss haben auf die Art und Weise, wie wir wahrnehmen und empfinden. Und es verleitet uns, Hochsensibilität als Ausrede zu verwenden:

„Ich kann das nicht, weil ich hochsensibel bin.“

Hochsensibilität ist eine momentante Beschreibung - keine Ursache. Womöglich empfindest du zu einem anderen Zeitpunkt weniger stark? Ich habe das bei mir durchaus immer wieder festgestellt, dass ich nicht immer gleich hochsensibel bin. Lass dich von deiner Hochsensibilität nicht abhalten Dinge zu tun, die du gerne tun würdest.

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Alles Liebe
Raphael

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Fußnoten:
¹ Was folgende Geschichte illustriert (gefunden bei Dirk Revenstorf):

Während des Studiums kam er, so erzählt derselbe Erickson, auf dem Weg zur Universität immer an einem bestimmten Fabrikgebäude vorbei. Das Tor stand meist weit offen, und er konnte hineinschauen. Die vielen Maschinen machten einen enormen Lärm. Erickson war verwundert, als er feststellte, dass sich die Arbeiter unterhielten, obwohl er selbst bei dem Lärm kein Wort verstehen konnte – auch wenn er nahe heranging. Das machte ihn neugierig. Eines Tages fragte er den Werksleiter und erhielt die Erlaubnis, in einer sichern Ecke in der Halle zu schlafen. Die Leute belächelten den „komischen Kauz“. Trotz des Lärms schlief er nach einiger Zeit ein und wachte erst nach einigen Stunden wieder auf. Er stand auf und ging zu den Arbeitern an den Maschinen und verstand diesmal jedes einzelne Wort. Seine Ohren hatten gelernt, das Unwichtige auszublenden.

Mehr zum Thema:
http://open-mind-akademie.de/hochsensibilitat/
http://mymonk.de/hochsensible-menschen/
http://mymonk.de/hochsensibel-anzeichen/
http://www.zartbesaitet.net/
http://simplyfeelit.de/

Auf Facebook:
https://www.facebook.com/HochsensiblePersonen

  1. Philipp Antworten

    Du hast gerade meine Beziehung zu der Gruppierung in Kategorien und Benennung dieser geändert. 😉

    Jetzt können Kategorien, wie z.B. Hochsensibel auf einmal nützlich sein, um Dinge besser in Sprache zu bringen, um sich einiger Eigenheiten von sich bewusster zu sein und dementsprechend bewusster damit umzugehen. (Nebengedanke: Wow und subsumieren von Eigenschaften unter einer Kategorie erleichtert auch noch das Einordnen und Merken). Top.

  2. Doro Antworten

    Hi Raphael,

    ich sehe das genau so wie du: auch Hochsensiblität ist nur ein Phänomen. Wir hochsensiblen müssen es als gegeben hinnehmen und nicht ständig damit hadern. Denn es ändert nichts daran, dass wir viele Reize aufnehmen.
    Dagegen anzukämpfen oder es nicht wahrhaben zu wollen hilft wenig. Im Gegenteil: wenn ich meine Eigenschaft erkannt habe und annehme, kann ich mich um mich kümmern und die Hochsensibilität zu einer Gabe ausbauen.

    Viele Grüße
    Doro (www.prosamimosa.de)

  3. Sylke Antworten

    Hallo. Gut geschrieben – was mich bewegt? Ich kann mich meinem Mann nicht erklären, obwohl ich lange mit ihm geredet habe. Er liebt mich, steht aber oft voll Unverständnis vor meinen Barrieren und Eigenarten. „zu viel“ Emotion ist noch am leichtesten zu akzeptieren … Beispiel: manchmal MUSS ich wenigstens im Raum alleine sein, am liebsten sollte das ganze Haus leer sein. Ich war ehrlich zu ihm: ich will nicht immer die anderen spüren, ihre Stimmung abtasten, etc. Um zu entspannen. Wie soll das jemand verstehen, der den Zustand anderer Menschen nicht automatisch checkt ? Ich habe begonnen mich damit wieder zurück zu ziehen …

    • Raphael Antworten

      Hallo Sylke,

      danke für deinen Kommentar!

      Du würdest gern das tun, was dir gut tut, ohne dich erklären zu müssen?
      Du willst gern darin verstanden sein, was du erlebst, fühlst und brauchst?
      Hab ich das korrekt rausgehört?

      Was willst erreichen, indem du dich zurückziehst?

      LG,
      Raphael

  4. Sylke Antworten

    Hallo Raphael, ja, genau richtig: ich würde gerne verstanden werden von denen die ich liebe, in dem was ich erlebe. Und weil mir das nicht gelingt, ziehe ich mich in Sachen erklären und auf meine Sensibilität hinweisen wieder zurück. Bei meinem Mann zumindest, wobei ich ja hier im Netz nach Hilfe suche … Was will ich bei ihm erreichen ? … …. ich möchte nicht „mimosenmäßig“ auf ihn wirken … Hast du die Erfahrung gemacht, dass ein/e nicht-HSP verstanden hat, was in uns vorgeht und was das bedeutet ? Wenn ja, hast du dazu beigetragen und wie ? LG, Sylke.

    • Raphael Antworten

      Hallo Sylke,

      hm ja das ist verständlich, dass du zwar als feinfühlig aber auch als stark gesehen werden willst, was meiner Meinung voll vereinbar ist. Wenn dein Mann dich voll verstehen würde, welches Erleben hättest du dann? Dass du ganz angenommen und in Ordnung bist wie du bist? Verbindung zu einer Person, die du liebst?

      Ich weiß nicht, ob das Konzept HSP, für die Verbundenheit zwischen dir und deinem Mann so förderlich ist. Was bedeutet es für dich HSP zu sein? Akzeptanz für dein Erleben sehr feinfühlig zu sein? Womit ich gute Erfahrungen gemacht habe ist, die andere Person zuerst 100% zu verstehen. Dann entsteht auch schon Verbundenheit und oft hilft das der Person, sich besser in mich einzufühlen.

      „Am liebsten wäre ich ganz allein im gesamten Haus, brauche einfach etwas Ruhe. Ich weiß, das könnte für dich etwas seltsam klingen und du kennst das von dir womöglich gar nicht. Ist das so?“ Wenn jemand Unverständnis hat, gib ihm Verständnis für das Unverständnis und schau, was aus seinem Unverständnis wird!

      Liebe Grüße,
      Raphael

  5. Sylke Antworten

    Ok, ich glaube ich verstehe worauf du hinaus willst – wenn er mich voll verstehen würde hätte ich mehr Akzeptanz und weniger „nimm es endlich gelassener“, „sei gelassener“ oder „nimm dir nicht alles so zu Herzen“. Aber eben auch nicht mehr. Ich werde versuchen ihn NOCH mehr zu ergründen. 100 % halte ich für unmöglich, auch für HSPen. Vielleicht hätte ich – als Einzelkind aufgewachsen – tatsächlich gern hin und wieder einfach ein bisschen MITLEID ??? Ich erlebe mich als HSP hauptsächlich zu viel fühlend: meist emotional, aber auch rein körperlich. Beispiel: Es vergeht kaum ein Tag, an dem mir nicht das Ausmaß der Massentierhaltung schmerzlich bewusst ist – Tiere erzeugen bei mir oft noch mehr Gefühl als Menschen – ich versuche das alles im Griff zu haben, aber über die ein- oder andere, dann doch im Supermarkt und nicht beim Bauern gekaufte, Wurst kann ich wirklich mit meinem Mann aneinander geraten. Er weiß zwar um alle Probleme und bemüht sich „ethisch-moralisch“ einzukaufen – das Ausmaß meiner Innenwelt, wenn ich über gequälte Tiere nachdenke kann er aber niemals erfassen. So ist es halt …

    Zum Schluss noch das wirklich Positive: Ich mag das automatische „abtasten“ und einfühlen meinerseits bei Begegnungen mit anderen Lebewesen tatsächlich sehr. Früher dachte ich, dass das alle Menschen so machen. Heute weiß ich, es ist etwas ganz besonderes. Das würde mir wirklich fehlen, wenn ich 3 Wünsche frei hätte und nicht mehr HS wäre …
    Danke dir für’s kümmern und deine Hilfestellung. Alles Gute auch für dich und liebe Grüße, Sylke.

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