Selbstmitgefühl: Werde dir selbst zum besten Freund

Mitgefühl. Ein warmes Gefühl in der Brustregion. Wann hast du es das letzte Mal empfunden? Und für wen?

Vielleicht für eine Freundin, die gerade schmerzvoll ihre Beziehung beendet hat? Oder für deine Partnerin, die einen Unfall hatte? Oder für ein Kind, das gerade traurig war und weinte?

Ich bin mir sicher, dass du dieses Gefühl kennst – für andere. Aber wie sieht es für dich selbst aus? Wann hast du das letzte Mal Mitgefühl für dich empfunden? Und warum ist das irgendwie eine komische Vorstellung, Mitgefühl für sich selbst zu empfinden?

Ich mache immer wieder die Beobachtung, dass es uns relativ leicht fällt, für andere Mitgefühl zu entwickeln. Viel schwerer tun wir uns jedoch bei uns selbst.

In diesem Artikel geht es darum, warum es wichtig ist, freundlich und mitfühlend mit uns umzugehen und wie wir Selbstmitgefühl entwickeln können.

Bevor du voll in das Thema einsteigst, kannst du mithilfe dieser Fragen einschätzen, wie freundlich oder weniger freundlich du bisher mit dir umgehst:

Welchen folgenden Aussagen stimmst du wie stark zu?

1) Ich analysiere oft, was mit mir oder anderen falsch läuft.

2) Ich kann, wenn die Wogen meiner Gedanken und Gefühle hoch gehen, eine übergeordnete Sicht auf die Dinge einnehmen.

3) Wenn mir ein Fehler passiert, verurteile ich mich dafür.

4) Ich gehe verständnisvoll, freundlich und entschlossen mit meinen Fehlern um.

5) Ich habe oft Gedanken, dass mit mir etwas nicht stimmt und ich nicht normal bin.

6) Ich finde, dass meine Fehler menschlich sind.

Stimmst du den Sätzen mit den ungeraden Zahlen eher zu, dann ist das ein Zeichen, dass du stark von Selbstmitgefühl profitieren kannst. Doch zunächst lass uns Selbstkritik und -bestrafung näher anschauen:

Selbstkritik ≠ kritisches Reflektieren

Selbstmitgefühl ist in unserer Gesellschaft nicht die Norm. Vielmehr ist die Norm, liebe den anderen und kritisiere dich selbst.

Die Norm in vielen Breiten unserer Gesellschaft: Liebe den Nächsten und kritisiere dich selbst.

Laut Paul Gilbert entspringt Selbstkritik dem Bedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Wir haben gelernt, dass wir selbstkritisch und bestrafend mit uns umgehen müssen, damit wir akzeptiert und geliebt werden.

An dieser Stelle will ich Selbstkritik und Selbstbestrafung klar von unserer Fähigkeit kritisch zu reflektieren abgrenzen. Durch Selbstkritik und Selbstbestrafung werten wir uns selbst oder Teile von uns ab.

“Ich blöde Kuh.” “Ich schaffe aber auch gar nix.”

Kritische Reflexion andererseits hat nichts mit Abwertung zu tun. Wenn du dein Verhalten kritisch reflektierst, beurteilst du, inwiefern dein Verhalten deinen Zielen und Bedürfnissen dient. Dabei berücksichtigst du aber auch die Bedingungen und Ursachen, die das Verhalten herbeiführten. Auf diese Weise kannst du dein Verhalten deinen Zielen und Bedürfnissen anpassen, ohne dich abzuwerten.

“Mit dem Fahrrad von diesem Gehsteig zu springen, war keine gute Idee, um sicher unterwegs zu sein – aber wie hätte ich wissen können, dass die Satteltasche reißt?”

Diese Art zu bewerten brauchen wir, um uns durch die Welt zu navigieren und aus unserer Unwissenheit zu lernen.

Selbstkritik und innerer Wachstum

In vielen Menschen (wie auch mir) gibt es eine innere Stimme, die sich immer wieder meldet, dass ich selbstkritisch mit mir umgehen muss, um zu wachsen und lernen.

Dieser Stimme halte ich mittlerweile die Studien entgegen, die bspw. zeigen, dass Menschen mit hohem Selbstmitgefühl genau so ambitionierte Ziele haben (und verfolgen), wie Menschen die selbstkritisch mit sich umgehen.

Ein möglicher Grund dafür ist, dass Selbstkritik extrinsische Ziele fördert. Das sind Ziele, in denen wir von außen Anerkennung oder, falls wir die Erwartung nicht erfüllen, Bestrafung erwarten.

Selbstmitgefühl auf der anderen Seite fördert intrinsische Ziele: Ein intrinsisches Ziel verfolgst du dann, wenn dein Ziel deinen eigenen Werten und Bedürfnissen entspringt – wie z.B. dem Bedürfnis nach persönlicher Reifung. Hier wurzelt das Ziel in deinen Bedürfnissen und nicht in äußeren Erwartungen an dich. Etwas aus einer intrinsischen, von innen kommenden Motivation zu machen, ist belegbar um ein vieles effektiver und nachhaltiger.

Auch in unserer eigenen Erfahrung finden wir Hinweise darauf, dass uns Selbstkritik nicht weiterhilft.

Wie fühlst du dich, wenn du dich selbst kritisierst?

Stellt sich die Motivation, aus dem Fehler zu lernen, sofort ein? Oder erst ein bisschen später? (Oder gar nicht?)

Unsere Erfahrung und die Wissenschaft zeigen uns klar, dass Selbstbestrafung nicht förderlich ist. Warum tun wir es trotzdem?

Ein Teil in uns hat gelernt, selbstkritisch und bestrafend mit uns umzugehen:

Wenn wir in der Schule bestraft wurden für unser vermeintliches Fehlverhalten. Wenn wir von Menschen um uns herum für unser Verhalten kritisiert wurden. Wenn unsere Gefühle, Gedanken etc. von anderen korrigiert wurden.

Wenden wir uns diesem Teil in den nächsten Abschnitten liebevoll zu:

Selbstmitgefühl

Selbstmitgefühl wurde in den letzten Jahren verstärkt erforscht. Einige Studien¹ belegen z.B., dass ein geringes Selbstmitgefühl mit Ängsten und Depressionen einhergeht.

Auch die Burnoutraten¹ sind unter Studierenden mit hohem Selbstmitgefühl geringer, als unter Studenten mit wenig Selbstmitgefühl.

Selbstmitgefühl hilft dir, Niederlagen zu bewältigen, ohne dich in deinen Misserfolgen zu verlieren. Du stärkst deine Resilienz, also deine Widerstandskraft: Ein kleines Kind, das gehen lernt, fällt wesentlich öfter als es geht. Es bleibt jedoch nicht liegen und denkt sich:

“Ich blöde Kuh. Ich kann keinen Schritt machen ohne umzufallen.”

Es steht wieder auf und fällt wieder. Selbstmitgefühl hilft dir genau dieses Durchhaltevermögen eines Kindes zu entwickeln, das gerade gehen lernt.

„Jumping from failure to failure with undiminished enthusiasm is the big secret to success.” Savas Dimopoulos

Nicht nur das: Selbstmitgefühl ist auch eines der wirksamsten Mittel gegen Glaubenssätze wie:

Ich bin nichts wert. Ich bin nicht liebevoll. Mit mir stimmt etwas nicht.

Es hilft dir, mit Scham umzugehen und dich selbst zu lieben (so wie du andere liebst). Egal was passiert, du hast die Wahl, ob du dem mitfühlend oder abwertend begegnest. Und die Liebe, die du durch Selbstmitgefühl zu dir entwickelst, ist keine egoistische Liebe: Es ist eine bedingungslose Liebe, die dir und allen Menschen gilt.

Selbstmitgefühl ist allerdings keine Wunderpille. Vorsichtig anwenden würde ich Selbstmitgefühl z.B. bei inneren Konflikten, bei denen es zwei unterschiedliche Teile oder Wünsche in mir gibt.

Gebe ich einseitig Mitgefühl, also nur einem Teil, kann ich ein leidvolles Muster negativ verstärken.

Womöglich will ein Teil in mir arbeiten und produktiv sein. Ein anderer Teil will aber einfach nur abschalten und entspannen.

Einseitig gibst du dir dann Mitgefühl, wenn du nur den Teil berücksichtigst, der sich entspannen und abschalten will und die Bedürfnisse des anderen Teils nicht berücksichtigst.

Vielleicht spürst du etwas Scham, weil du wieder nicht produktiv warst. Mitgefühl in dieser Situation zu entwickeln ist wichtig. Aber noch wichtiger ist, dass du Mitgefühl für den einen Teil und gleichzeitig Bewusstsein für die Bedürfnisse des anderen Teils entwickelst. Das erlaubt dir Strategien zu finden, um produktiv zu sein und zu entspannen.

Mitgefühl ist wichtig und sollte bei inneren Konflikten behutsam angewendet werden. Doch was braucht es eigentlich für Selbstmitgefühl?

Die Komponenten von Selbstmitgefühl

Für Selbstmitgefühl braucht es Freundlichkeit, ein Sinn von Verbundenheit und Achtsamkeit:

  1. Es braucht deine Bereitschaft, mit dir freundlich umzugehen. Wie mit einem Freund. Kannst du dir die selbe Menge an Geduld und Verständnis entgegenbringen, wie einem engen Freund?
  2. Um Selbstmitgefühl von “um-sich-selbst-kreisen” und “Egoismus” abzugrenzen, braucht es noch eine weitere Zutat: Das Gefühl, mit allen Lebewesen verbunden zu sein. Teil zu sein einer gemeinsamen Menschheit. Sich bewusst zu sein, dass jeder Mensch die selben Gefühle und Grundbedürfnisse hat. Wenn du dir das bewusst machst, hat dein Leid nichts Trennendes mehr:“Mit mir ist etwas falsch. Ich bin nicht normal und isoliert von den anderen.”Es wird zu einem Leid, das alle Menschen teilen. Wie ich mich fühle, ist ganz normal, es ist menschlich.
  3. Die dritte wichtige Zutat für Selbstmitgefühl ist Achtsamkeit. Mit Achtsamkeit ist gemeint, wie sehr du eine übergeordnete Haltung über die Dinge einnehmen kannst. Du bist nicht, was du denkst oder fühlst. Du bist dir bewusst, dass du fühlst und denkst – bist aber mehr als deine Gefühle und Gedanken. Stell dir einen Adler in einem blauen, klaren Himmel vor. Wenn der Adler einen Sturzflug macht, bleibt der Himmel unverändert. Der Himmel beobachtet geduldig, was auch immer der Adler gerade tut. Deine Gedanken und Gefühle sind der Adler während die übergeordnete Haltung der Himmel ist.

selbstmitgefühl

Egal, was der Adler macht, der Himmel bleibt unberührt.

Selbstmitgefühl ist ein Verhalten, das wir entwickeln können.

Leiden = Schmerz x Widerstand.

Widerstand ist unsere natürliche Reaktion auf emotionales Leid. Wenn wir auf eine Herdplatte greifen, schickt unsere Hand ein Schmerzsignal ins Gehirn und wir entfernen unsere Hand von der Schmerzquelle. Unsere Standardantwort auf Schmerz ist “Vermeiden” und “Widerstand”.

Während Vermeiden und Widerstand bei äußerem Schmerz eine hilfreiche Antwort ist, wird genau diese Reaktion bei emotionalem Schmerz zum Leid.

Selbstmitgefühl nimmt den Widerstand aus der Gleichung. Indem wir uns mitfühlend unserem Schmerz zuwenden – anstelle diesen zu vermeiden, verlauft der Schmerz wie ein normales Gefühl: Er steigt an, sinkt und vergeht wieder. Selbstmitgefühl versaut so die Gleichung: Wir leiden weniger.

Dabei ist nicht alles Friede, Freude, Sonnenschein – wir empfinden wohl Schmerz. Mitgefühl hilft uns diesen Schmerz anzunehmen und zu transformieren.

Erfahre an dir selbst, wie Selbstmitgefühl auf dich wirkt und mache folgende Übungen:

Erinnere dich an eine vergangene Niederlage. Vergegenwärtige dir, was du gefühlt hast.

War es Stress? Scham? Oder Trauer?

Begegne diesen herausfordernden Erinnerungen mit folgendem Mantra:

“Ich fühle [Dein Leid] in diesem Moment (Achtsamkeit im Hier und Jetzt), Leid gehört zum Leben (Verbundenheit mit dem Leben und anderen Lebewesen), möge ich in diesem Moment freundlich zu mir sein. Möge ich mir selbst Mitgefühl schenken (Freundschaftlicher Umgang mit sich selbst).”

In diesem Mantra sind alle drei Komponenten für Selbstmitgefühl enthalten. Ändere manche Passagen, so dass sie für dich stimmig sind und wiederhole innerlich dieses Mantra.

Irgendwann wirst du dann eine positive Veränderung spüren und ein warmes Gefühl der Fürsorge für dich empfinden (Mitgefühl), wie zu einer Person oder einem Kind, das gerade trauert.

Wie ist für dich die Vorstellung, dir selbst Mitgefühl zu geben? Was hilft dir, mit dir selbst mitfühlend zu bleiben?

Lass mich deine Meinung in einem Kommentar wissen.

Alles Liebe, Raphael

Quellen und mehr zum Thema:

Dweck, C. (2006). Mindset: The new psychology of success. Random House.

Neff, K. D. (2003). The development and validation of a scale to measure self-compassion. Self and identity, 2(3), 223-250.

¹ Neff, K. (2012). Selbstmitgefühl. Germering: Kailash.

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