Minderwertigkeitsgefühl – Gift für Körper und Seele?
Nicht, wenn du Alfred Adler fragst. Der Begründer der Individualpsychologie und des Begriffs Minderwertigkeitsgefühl, beschrieb Minderwertigkeit als notwendig und normal. Jeder Mensch braucht den Eindruck minderwertig/nicht vollkommen zu sein, um sich gesund zu entwickeln.
Durch Erziehung und gesellschaftliche Muster entwickeln wir manchmal ein ungünstiges Verständnis von Selbstwert und Minderwertigkeit. In diesem Artikel findest du ein paar dieser ungünstigen Verständnisweisen.
Nach der ersten Hälfte wirst du dich wahrscheinlich fragen, was du denn jetzt für „deinen Selbstwert tun kannst.“
Dafür findest du in der zweiten Hälfte einige Anregungen. Die erste Vorstellung/Anregung ist besonders wichtig. Ich bin gespannt, was du dazu meinst. 😉
Minderwertigkeitsgefühl ist kein Gefühl
Obwohl das Wort “Gefühl” in Minderwertigkeitsgefühl enthalten ist, handelt es sich nicht um ein Gefühl. Vielmehr ist es eine Einstellung zu sich selbst. Eine Haltung, die du dir gegenüber bewusst oder unbewusst einnimmst.
Das soll nicht heißen, dass du dir das Gefühl einredest: Denn mit der Einstellung dir gegenüber, geht ein Gefühl einher!
Allerdings nicht das Gefühl “Minderwertigkeit”. Das ist in Wirklichkeit eine Bewertung.
Aber vielleicht Schmerz? Oder Angst? Fühle selbst: Welche Körperempfindungen kannst du spüren, wenn du dich selbst als minderwertig beschreibst? Wie würdest du das Gefühl benennen?
Mit diesem Gefühl ist nichts falsch, es ist einfach da und will deine Aufmerksamkeit.
Ich sage nicht, dass deine Bewertungen die Gefühle verursachen oder umgekehrt. Die Zusammenhänge sind nicht bekannt und wahrscheinlich komplex. Wenn du allerdings die Bewertung “ich bin nichts wert” und das Gefühl z.B. “Angst” streng trennst, fällt es dir leichter, aus dem Kreislauf aus unangenehmen Gefühlen und “Abwertungen” auszubrechen. So identifizierst du dich weniger mit dem Gefühl/der Bewertung und bekommst Abstand.
Darum geht es jetzt:
Gedanken und Bewertungen sind nicht per se wahr
Des Körpers unbequeme Emotionen entwickeln sich nur, um dich zu erinnern, dass es einen Gedanken gibt, der hinterfragt werden will.
Minderwertigkeit ist weniger ein Gefühl als ein Gedanke. Wenn du gerade Gedanken nachhängst, wie bewusst bist du dir in diesem Moment, dass du denkst und woran du denkst?
Oft sind wir mit unseren Gedanken völlig identifiziert. In dem Moment, in dem sich ein Gedanke formt, nehmen wir diesen automatisch für wahr an. Dieser Automatismus ist in uns Menschen so angelegt und wird bei selbstabwertenden Gedanken zum Fallstrick.
Wenn du denkst: “Ich bin minderwertig.” – ist das keine Wahrheit, es ist ein Gedanke, der geprüft werden will. Byron Katie hat eine sehr wirksame Methode entworfen, um Gedanken zu hinterfragen und in unterstützende Gedanken zu transformieren. Sie litt selbst unter starken Depressionen – sie weiß also, wovon sie spricht. (Für mehr Infos, folge dem Link).
Wie kommt es, dass wir uns gedanklich immer wieder abwerten?
Sprache, die unser Selbstwertgefühl abhängig macht
Uns selbst, unsere Gefühle und Gedanken nicht zu bewerten – ist eine wesentliche Zutat, um Vertrauen in den eigenen Wert zu entwickeln. Wir haben allerdings von der ersten Sekunde an gelernt, alles zu bewerten und gehen mit uns streng ins Gericht:
“Ich Angsthase, das war wieder völlig daneben. Ich hab’ mich wie ein 7-jähriges Kind benommen…”
Bereits als Kleinkind bekamen wir regelmäßig Sätze zu hören wie:
“Das hast du gut gemacht.”
“Falsch! Das tut man nicht.”
Tendenziell hörten wir öfters, was falsch war, als was richtig war.
Lehrer bewerteten uns, ob wir gute oder schlechte Schüler waren. Universitäten prüften uns und Assessment Centers bewerteten, ob wir für einen Job was taugen oder nicht.
Egal wo in unserer Gesellschaft, wir werden in allen Bereichen bewertet. (Es sei denn, du hast gute Freunde!)
Da ist es kein Wunder, dass wir lernen, uns selbst auch streng zu bewerten. Uns vielleicht sogar “abzuwerten”, wenn etwas nicht so klappt, wie wir uns das wünschen.
All diese Bewertungen, die wir täglich hören sind von der Gesellschaft konstruiert (also nicht per se wahr). In der Natur gibt es kein richtig oder falsch, gut oder schlecht. Alles hat seinen Zweck, alles seine Berechtigung und seinen Wert. Sogar Mücken haben ihren Wert.
Die Gewohnheit, uns abzuwerten, hemmt unser Vertrauen in unseren bedingungslosen Wert massiv. Wir können nicht daran glauben, dass wir wertvoll sind, wie wir sind.
Sich nicht mehr abzuwerten, ist leichter gesagt als getan. Die alten Muster haben einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den neuen Mustern, verständnisvoll mit sich selbst umzugehen. Aber es ist machbar durch z.B. Achtsamkeit.
Du bist immer gleich viel Wert
“Ich habe 0 Selbstwertgefühl.”
Du bist immer gleich viel Wert. Du kannst deinen Selbstwert weder verringern noch erhöhen. Vielmehr ist es deine Aufgabe, Vertrauen in deinen Wert zu entwickeln!
Es macht einen Unterschied zu sagen:
“Ich habe keinen Selbstwert.” vs. “Ich habe noch kein Vertrauen in meinen bedingungslosen Wert entwickelt.”
Am Ende des Artikels findest du einige Anregungen, wie du dieses Vertrauen entwickeln kannst.
Minderwertigkeit und Leistung: Ein Hamsterrad
Was passiert, wenn wir versuchen unseren Selbstwert zu erhöhen oder verbessern?
Wir wollen den eigenen Wert beweisen, indem wir versuchen a) alles richtig zu machen und b) außerordentliche Leistungen zu vollbringen.
Das ist allerdings eine weitere Falle: Was ist richtig? Was ist falsch? Wann hast du genug Leistungen vollbracht? Das lässt sich nicht eindeutig festlegen. Das Streben, den eigenen Wert zu beweisen, wird zum Hamsterradlauf.
So vollbringen wir eine Leistung nach der anderen, im Versuch unseren Wert nach außen hin und uns selbst zu beweisen. Wann wäre der eigene Wert bewiesen?
Positiv zu denken, ist keine Lösung
Oder zumindest eine einseitige Lösung: Natürlich, du kannst deine Gedanken, du seist nichts wert, jederzeit ändern. (Spürst du inneren Widerstand, das zu tun? Zurecht, zurecht!)
Diese “negativen” Gedanken haben nämlich auch ihre Berechtigung und ihren Zweck. Sie einfach durch positive Gedanken zu ersetzen, wäre einseitig und würde diese Berechtigung nicht berücksichtigen.
Welcher Zweck könnte von solchen Gedanken ausgedrückt werden?
Erstens: Minderwertigkeit ist kein Gefühl, was aber nicht heißt, dass kein anderes Gefühl dahinter steckt. In vielen Fällen versteckt sich hinter den Gedanken ein Gefühl wie tiefe Angst, Schmerz oder Niedergeschlagenheit. Die Gefühle einfach wahrzunehmen und sein zu lassen, ist ein erster, sehr wertvoller Schritt.
Selbstzweifel sind außerdem Ausdruck eines wertvollen anerkennenswerten Bedürfnis in dir. Willst du dazu gehören? Oder einfach nur OK sein, wie du bist?
Die Selbstzweifel zeigen dir z.B. an: Ich schätze die Seins-Qualität, einfach ich zu sein – angenommen zu sein, wie ich bin. Diese Qualität vermisse ich gerade.
Der negative Gedanke ist ein Ausdruck deines Gefühls und der fehlenden Qualität (Bedürfnis). Wenn du dir dem bewusst wirst, verliert der negative Gedanke seine “Negativität” und somit die hemmende Wirkung auf das Vertrauen in deinen Wert.
Vertrauen in deinen eigenen Wert aufbauen
Nein, du musst jetzt keine Liste machen, was du alles gut kannst, damit du deinen Wert erkennst. Ich schlage dir etwas anderes vor: Stell dir vor wie ein kleines Kind auf der Straße steht. Es braucht dich, es will geliebt und beschützt werden. Kannst du für dieses Kind Mitgefühl entwickeln?
Du warst auch einmal ein Kind mit den selben Bedürfnissen und dieses Kind existiert nach wie vor in dir.
Kannst du für dein jüngeres Selbst, gleich viel Mitgefühl entwickeln, wie für das Kind in der Vorstellung?
Es ist ein Paradox, dass wir für andere Mitgefühl entwickeln können, nicht aber für uns selbst. Mitgefühl für dich selbst zu entwickeln, ist einer der wichtigsten Schritte, damit du mehr Vertrauen in deinen Wert gewinnst. Die gute Botschaft: Mitgefühl kann trainiert werden und es gibt viele Wege, das zu tun. Einer davon ist z.B. durch Mitgefühls-Meditation.
Ein zweiter Ansatz, Vertrauen in deinen Wert zu entwickeln, ist Achtsamkeit: Das heißt, zu lernen, deine Gedanken wahrzunehmen ohne sie zu bewerten und ohne dich mit ihnen zu identifizieren. Du richtest von Moment zu Moment deine Aufmerksamkeit auf z.B. deinen Atem. Alle Gedanken, die auftauchen, kannst du einfach anerkennen, wahrnehmen und weiter ziehen lassen. Achtsamkeit hilft dir, Abstand von abwertenden Gedanken zu gewinnen.
Eins der besten Bücher, um Achtsamkeit zu lernen, ist Gesundheit durch Meditation von Jon Kabat-Zinn. In fast allen größeren Städten gibt es auch Trainer, die diese Form der Achtsamkeit in Kursen anbieten.
Ein dritter Ansatz, der dir helfen kann, ist The Work von Byron Katie. Das ist der Prozess, in dem du deine Gedanken hinterfragst und transformierst. Hier findest du mehr Infos.
War etwas Hilfreiches dabei für dich?
Lass es mich in den Kommentaren wissen!
Alles Liebe,
Raphael
Quellen und mehr zum Thema:
Zusammenfassung: Alfred Adler und seine Werke
Gesundheit durch Meditation – Jon Kabat-Zinn
Einfach Meditation – Jack Cornfield
Hypnosystemische Beratung und Therapie – Gunther Schmidt (Das Minderwertigkeitsgefühl wird in diesem Artikel aus hypnosystemischer Sicht betrachtet.)
Kennst du dieses Kind? Es möchte mit dir sprechen. Es braucht dich jetzt. Ein Artikel von Afschin.com
Fotos:
pixabay
Ein paar Erkenntnisse die ich in letzter Zeit dazu hatte:
Sobald ich anfange Dinge nur zu tun um mich zu Beweisen bzw. um Anerkennung von aussen zu gewinnen werde ich immer abhängiger von der Bewertung anderer über mich.
Lob macht abhängig.
Ich kann mich unabhängig machen, mich befreien, wenn ich Dinge tue die ich aus einer anderen Intention heraus tue: Um Andere zu Bereichern, meine träume verwirklichen, Spaß haben, meine Bedürfnisse erfüllen und Tätigkeiten die mich in den Flow ziehen finden und machen.
Es hilft auch wenn ich Anerkennung in Form von Lob vermeide – Quasi einen Entzug mache.
Um frei zu werden lenke ich meine Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse die ich durch meine Handlungen erfüllt habe und erfülle. Und auf die dabei entstehenden angenehmen Gefühle.
Vielleicht hilft das dem einen oder anderen 🙂
Alles Liebe
Daniel
Hallo Daniel,
danke für die Ergänzung. Kann dem, was du schreibst, voll zu stimmen. 🙂
LG,
Raphael
Danke für deine Ergänzung Daniel! Finde mich in deinen Schilderungen selbst wieder
Lieb grüss
Chri